Bilder: Universal Pictures International Fotos: Universal Pictures International
  • Bewertung

    Zwischen Gewalt, Gefühl und Geschwindigkeit

    Exklusiv für Uncut
    „Ich möchte eine Bikergang gründen.“ – „Wieso das denn?“ – „Na, um was zu tun zu haben.“ - Vor einigen Jahren fällt dem Autorenfilmer Jeff Nichols („Mud“, „Take Shelter”) ein Fotoalbum in die Hände. Fotograf Danny Lyon drang in den 1960er Jahren für ein Studienprojekt tief ein in die Gründungzeit einer Bikergang, fuhr mit auf ihren Rädern, schnitt Interviews und dokumentierte den Subkultur-Startschuss in besagtem Bildband namens „The Bikeriders“. Knapp 60 Jahre später verfilmt Nichols, eher leiser Old-School-Film-Ethnograph denn aufregende Blockbuster-Berühmtheit, die fotografischen Schilderungen unter gleichem Namen. Im Zentrum des sehens- und beachtenswerten Dramas stehen Randfiguren der Gesellschaft: Johnny, Benny und Kathie.

    Routiniert charismatisch und standhaft verkörpert Tom Hardy den Familienvater Johnny, der die „Vandals Chicago“ gründet, einen Motorradclub. Inspiration findet er in keinem Geringeren als Marlon Brando im Filmklassiker „The Wild One“. Wie Tom Hardy als Johnny die Dialoge Brandos einstudiert, ist sowohl brillanter Einfall als auch Verbeugung vor der Filmgeschichte. Johnny ist nicht nur Schöpfer, sondern auch Chef der Gruppe, muss sich in Einzelduellen behaupten und verletzte Mitglieder rächen, bevor ihm die Dimensionen entgleiten. Austin Butler hingegen spielt den jüngeren Benny ambivalent, weniger mit Overacting in den Dialogen als mit Understatement im Habitus. Sein rebellischer Charakter ist cholerisch, gewalttätig und melancholisch, geprägt von Gefühlskälte und einer Spur Nihilismus. Doch beiden männlichen Figuren wird die Show gestohlen.

    Jodie Comer glänzt in ihrer Rolle als Kathie, als die Frau, die über Benny den Weg ins motordröhnende Innere des Clubs findet. Nicht nur ist es eine mutige und interessante Entscheidung, die Geschichte von toxischer Männlichkeit aus der Perspektive einer Frau zu erzählen. Die Art und Weise, wie Jodie Comer Kathies Zerrissenheit zwischen Zuneigung, Faszination und Missachtung darstellt, ist aller Ehren wert. Obendrein entfacht ihr Sarkasmus aus dem Off allerlei Humor. Sie versinnbildlicht traditionelle Rollenbilder, autonome Stärke und ist in ihrer Liebe zum Biker Benny, der dem Erwachsensein trotzt und nur in der Gruppe seine erfüllende Freiheit findet, die tragischste Figur. Wie kann sie sich behaupten in dieser von Alpha-Männlichkeit triefenden Gruppe? Kann sie Benny ändern, dessen Gefühle stets verschlossen bleiben? Wie umgehen mit ihrer zunehmenden Abneigung gegenüber der Chopper-Bande? Kann ein gesellschaftlich konformer Kodex in dieser Welt jemals siegen?

    Wie präsentiert Jeff Nichols das Setting? Im Wesentlichen chronologisch zwischen 1965 und 1973 erzählt, erfährt der präzise Schnitt eine wichtige Funktion: Immer wieder durchbrechen Rückblendungen aus Kathies Interview-Erinnerungsstrom die lineare Story. Dabei entsteht mehr Ruhe als Hast, hektische Straßensequenzen sind selten. Dem Streifen geht es um Menschen vom gesellschaftlichen Rand und nur am Rande um wuchtige Maschinen. In erster Linie lebt die Atmosphäre von Ausstattung und Mode. Kutten, Jeansjacken, die stilsicheren Outfits strotzen vor Coolness. Motorbikes, Karren und Haare sind Ausdruck der Zeit. So ist Austin Butler zusammen mit seiner ikonografischen Dune-Rolle wohl der coolste Schauspieler des Jahres. Und jedes Club-Mitglied ist besonders, vom völlig zerzausten Michael Shannon („The Shape of Water“) bis zum kalifornischen Rowdy, dessen Stummel kaum mehr als Zähne durchgehen. Biker-Proletarier der USA vereinigt euch! Untermalt durch passende Songeinlagen lässt Kameramann Adam Stone seine Bilder sprechen und imitiert mit authentischem Look das titelgebende Fotobuch.

    Aufschlussreich sind Buch und Film wegen der gelösten Stimmung der Biker-Frühzeit. Nur erahnen können wir zukünftige mafiöse Machenschaften, die die Gangs bis zur heutigen Zeit verrufen. Von Menschen-, Drogen- und Waffenhandel ist nichts zu sehen. Am Beginn stehen Freundschaft, Freiheitsdrang, Trinkgelage und gelegentlich eine interne Schlammschlägerei. Aus diesem hochinteressanten Mikrokosmos wird die Gang langsam gerissen. Wird von weltlichen Umständen eingeholt, die die eingeschworene Bande infiltrieren. Aus Faustkämpfen werden Messerstechereien, aus Freizeitclubs Bandenkriege, bequeme Autos ersetzen Motorbikes, der minimale Respekt vor Frauen geht flöten und da, wo früher Bier in Unmengen getrunken wurde, qualmen Joints. Mit steigender Popularität verschieben sich die individuellen Perspektiven zur Makroebene. Immer weniger Struktur, immer mehr Mitglieder. Ein Sammelbecken für vom System Ausgestoßene und Abgehängte, durch Vietnam Traumatisierte und durch zerrüttete Familien Verstörte. Und für Kleinkriminelle, die in der Gang nicht kameradschaftlichen Zusammenhalt sehen, sondern ein Versteck für Illegalität. Die inneren Kämpfe zersetzen sukzessive das ursprüngliche Ideal und vielleicht hinterlässt Jeff Nichols mit dem Beginn der neuen Ära einen zu nostalgischen Blick auf vergangene Zeiten. Vielleicht wird ein Teil des Publikums verschreckt durch fehlende Dringlichkeit und unkonventionellen Erzählstil. Letztlich geht die halbdokumentarische Form auf Kosten der vorhersehbaren Handlung, erzeugt eher anthropologische Sozialskizze als kohärentes Drama.

    Fazit: Das kaum sichtbare Faszinosum einer leidenschaftlichen Subkultur: abseits des Mainstreams, in den Wogen des Anti-Establishments, am Rande der Legalität. Getragen vom fantastischen Cast um Jodie Comer, Austin Butler und Tom Hardy schwelgt das Road-Drama in stylisher 60s/70s-Atmosphäre. Mit Vintage-Jeanskutten, kapitalistischen Abnutzungserscheinungen, Staub und blutigen Scherben, Ruß und dreckigem Rauch konstruiert die zeitgeschichtliche Studie das Milieu, romantisiert es vielleicht zu sehr, dekonstruiert es aber auch zugleich. „The Bikeriders“ gelingt zwar nicht gänzlich der Schritt weg vom spezifischen Genrefilm, am Ende geht ihm etwas der Saft aus, die Oszillation zwischen Gewalt, Gefühl und Geschwindigkeit überzeugt trotzdem!
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    (André Masannek)
    25.06.2024
    16:05 Uhr
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