Filmkritik zu Baby Invasion

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    Ist das Kino, oder kann das weg?

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    Es war Werner Herzog, der 1997 dem 24-jährigen Harmony Korine, wenige Monate nach der Premiere seines Regiedebüts (seinen Durchbruch feierte er als Drehbuchautor des kontroversen Teenie-Dramas „Kids“), großes Talent attestierte. „Gummo“ hieß das experimentell verstörende Erstlingswerk, in dem die Wand des Protagonisten ein zum Kultobjekt erhobenes Stück Speck zierte. Herzog nannte es „das gewagteste Debüt“, das er je gesehen habe, den kuriosen Kopf dahinter den „letzten Fußsoldaten einer ausgestorbenen Armee“. Und mit mindestens einer Sache sollte er Recht behalten: Korine, dem man nach obskuren Auftritten in der Talkshow von David Letterman als „verhaltensgestört“ abgetan hatte, würde weiterhin auf Konventionen pfeifen. Wie weit der Kalifornier, der mit „Spring Breakers“ und „The Beach Bum“ kurzzeitig sogar den Mainstream verwirren durfte, die Grenzen des Mediums austesten würde, hätte sich niemand erahnt. Denn ob sein aktuelles Werk überhaupt noch als „Film“ bezeichnet werden kann, darf man sich ehrlich fragen. Der Regisseur tut dies jedenfalls nicht.

    Ohrenbetäubendes Experiment in Let's-Play-Optik

    „Baby Invasion“ ist der zweite Auswuchs von EDGLRD, einem experimentierfreudigen, techfaszinierten Kollektiv, das - angeführt von Harmony Korine - das Kino in die Zukunft weisen möchte. Und dabei quasi ein neues Medium ins Leben ruft. Erst im letzten Jahr gab man mit „Aggro Dr1ft“ den Startschuss, dem komplett in Infrarot gedrehten Versuch, Gaming-Ästhetiken in Spielfilmform zu gießen. Mit „Baby Invasion“ geht man sogar noch einen Schritt weiter. Was einem hier präsentiert wird, hat nichts mehr mit Erzählkino im klassischen Sinne zu tun. Und das ist erfrischend. Wir sehen einen hyperrealen, mit Handheldkameras gedrehten Egoshooter, in dem bewaffnete Gangster Villen der oberen Zehntausend ausrauben. Die Gesichter der Räuber wurden mit Babygesichtern ausgetauscht. Eine Stimme aus dem Off - laut Korine eine ASMR-Sprecherin, die er auf OnlyFans entdeckt hat - spricht gelegentlich von einem weißen Hasen. Ein Monstrum, das sich in unterschiedlichen Formen und Farben zu erkennen gibt. Den sich anbahnenden Fiebertraum betrachten wir aus der Warte eines Videospiel-Streamers, der sein Antlitz nie zu erkennen gibt. Gelegentlich glitcht es, wir reisen durch Computerlaufwerke und hinauf ins Weltall. Im Hintergrund ertönen die wummernden Clubsounds von „Burial“. Den britischen Elektrovirtuosen hat Korine eigenen Angaben zufolge nie persönlich getroffen. Man habe die Musik über Discord-Nachrichten und PS5-Chats ausgetauscht. Links im Bild strömt, wie man es von Twitch und Let's-Play-Kanälen kennt, ein nie enden wollendes Chatfenster hindurch. Nicht umsonst sprach Korine in der Pressekonferenz davon, dass sich durch YouTube, TikTok und Co. neue Formen des Filmemachens aufgetan hätten, die es nicht zu unterschätzen gilt. Halbironisch bezeichnete er den erfolgreichen Jugendstreamer „I Show Speed“ als logischen Nachfolger von Andrei Tarkovsky.

    Wer nicht wagt, der nicht gewinnt

    Korine arbeitet mit losen Assoziationen, Gedankenströmen, verstörenden Bilderreigen wie aus einem Albtraum; hier einen Plot entziffern zu versuchen, wäre reine Mühsal. Drehbuch gibt es sowieso gar keines. Sollten wir aber Künstler, die Neues mit der Form wagen, nicht hochhalten? Vor allem in Zeiten, in denen Multiplexe zu gleichförmigen Konsumparadiesen mutiert sind, in dem eine Materialschlacht die nächste jagt? Und wer schreibt dem Kino überhaupt vor, was und was es nicht sein darf? Gedanken, die einem beim Vibrieren vor diesem Ungetüm in den Sinn kommen könnten. Ein wenig wirkt das alles wie das filmische Pendant zum Hyperpop, wo Popkultur auf Gegenkultur trifft und zum ADHS-stimulierenden Etwas mutiert. Das muss und wird nicht jedermann schmecken. Was für die einen ohrenbetäubender Unsinn, für andere eine sinnliche, orgiastische Erfahrung. Und ist es nicht Kunst, die besonders radikale Meinungen hervorruft, die letztlich den Test der Zeit bestehen wird? Die wichtigsten Fragen stellt sich „Baby Invasion“ auf einer Metaebene ohnehin selbst: Ist das Kino? Ist das ein Spiel? Ist es das echte Leben?

    Wie man es auch definiert: es ist aufregend.
    1705313743158_ee743960d9.jpg
    (Christian Pogatetz)
    02.09.2024
    11:36 Uhr