Filmkritik zu Queer

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    Amore und Ayahuasca

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    Man kennt ihn als James Bond: den Geheimagenten mit der Nummer 007, der Personifikation des Martini-trinkenden, hypermaskulinen Weltretters. So zart, gebrechlich und nackt (sprichwörtlich und buchstäblich), wie er sich im neuen Film von Luca Guadagnino zu erkennen gibt, hat man Daniel Craig aber noch nie gesehen. Dabei gibt er auch hier zu Anfang den Kerl mit der harten Schale, die schwer zu brechen ist. Dahinter aber ein fragiler, von Einsamkeit geplagter Mann; dessen Fassade lediglich ein Bewältigungsmechanismus. Einblicke in sein Innenleben bekommt man über ungeschnittene, auf dem Gesicht des Hauptdarstellers verweilende Nahaufnahmen. Die Verletzlichkeit seiner Figur bringt Craig herausragend gut zum Ausdruck. Der Film um ihn herum weiß ebenso zu betören, wenngleich dieser, das muss gesagt sein, viele rätselnd zurücklassen wird.

    Verfilmung eines „unverfilmbaren“ Romans

    Mit „Queer“ wagt sich Guadagnino an eine Adaption des gleichnamigen Romans von William S. Burroughs. Burroughs, sein bekanntestes Werk „Naked Lunch“ einst von Body-Horror-Meister David Cronenberg zum Leben erweckt, war dafür bekannt, sich selbst auf seine Hauptfiguren zu projizieren. Wie auch Lee, dem geplagten Protagonisten in „Queer“, war Burroughs im echten Leben homosexuell und heroinabhängig. Ein Lebemann, immer auf der Suche nach dem nächsten Rausch. Sein Werk war jedoch auch durchzogen von surrealen Passagen, die ewig als unverfilmbar galten. Wie Guadagnino und sein Drehbuchautor Justin Kuritzkes („Challengers“) diese auf die Leinwand bannen und über ihren ursprünglichen Zweck hinaus ausdehnen, ist mitreißend und hypnotisch. Aber auch fordernd. Denn alles beginnt noch ganz geerdet. Wie man es durch andere Romanzen Guadagninos (u.a. „Call Me By Your Name“) erahnen würde. Es sollte noch ganz anders kommen.

    Verlorene Seele sucht nach Liebe

    Auf den Straßen Mexico Citys zieht Lee (Craig), ein Weltkriegsveteran, in den 1950er-Jahren um die Häuser. Es geht von Bar zu Bar, in der Hoffnung den einen oder anderen Typen abzuschleppen. Mit schicker Garderobe, dauerverschwitztem Haar und blumiger Sprache versucht er sein Glück. Gene (Drew Starkey: wunderbar), ein fescher Bursch in seinen Zwanzigern, geht dem alternden Casanova nicht mehr aus dem Kopf. Das Problem: Gene ist heterosexuell. Zumindest gibt er den Anschein. Als die beiden dann einen Ausflug nach Südamerika anpeilen, wendet sich das Blatt jedoch auf schräge Weise. Im Dschungel Ecuadors möchte Lee unbedingt Ayahuasca ausprobieren. Das halluzinogene Pflanzensud, das, wie der von Gleichgültigkeit zerfressene Ex-Soldat behauptet, telepathische Fähigkeiten erweckt. Es folgt eine Reihe von psychedelischen Trips, mit denen Lee herausfinden möchte, ob Gene denn seine Gefühle erwidert. Gesprochen wird kaum mehr, man suhlt sich in phantastischen Bildern; innerer Tumult wird ausdrucksstark zwischen den Zeilen angedeutet. Lynch und Fassbinder lassen grüßen. Mit diesem radikalen Stilbruch wird der Film in der zweiten Hälfte manche Zuschauerinnen und Zuschauer verlieren, so viel steht fest. Wer sich auf diese eigenwillige Selbstfindungsodyssee einlassen kann, den wird „Queer“ aber nicht mehr wieder loslassen. Erotizismus und Sinnlichkeit stellt man im Dauerrausch unterdrückten Leiden gegenüber, denen selbst mit bewusstseinserweiterndem Eskapismus nicht mehr entflohen werden kann. Nirvana-Songs, die als Anachronismen zum Einsatz kommen, werden zur Hymnen der unerwiderten, queeren Sehnsucht. Ein herausforderndes, im Kern tragisches Enigma, über das noch viel diskutiert werden dürfte.
    1705313743158_ee743960d9.jpg
    (Christian Pogatetz)
    06.09.2024
    21:41 Uhr