Das merkwürdige Kätzchen

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Forumseintrag zu „Das merkwürdige Kätzchen“ von MichaelGasch

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MichaelGasch (10.08.2024 13:04) Bewertung
Über die Familie und das eigene Zuhause
Exklusiv für Uncut
Die Wachowskis und Coens sind als Filmemacher-Duos weltbekannt, bei den Zürchers mag dies wohl (leider) etwas anders aussehen. Ramon und Silvan Zürcher sind Schweizer Brüder und mischen schon seit 2007 tatkräftig im deutschen Kino mit. Vielfach ausgezeichnet, begann 2013 ihre sogenannte Tier-Trilogie mit „Das merkwürdige Kätzchen“ – ein Filmfestival-Liebling. Ganze acht Jahre später sollte es dauern, bis der Nachfolger „Das Mädchen und die Spinne“ auf Filmfestivals erneut die Runde machte. Zum Kinostart des Abschlussfilms „Der Spatz im Kamin“ bietet es sich an, die Gunst der Stunde zu nutzen und diese einzigartige Trilogie genauer unter die Lupe zu nehmen, Verbindungen zu ziehen und zu sinnieren: Wie kann es sein, dass diese Filme die strahlendsten Sterne am deutschen Filmfirmament sind? Nicht selten heißt es schließlich – deutsches Kino, schweres Kino.

Darum geht’s:Irgendwo im deutschen Nirgendwo beginnt ein neuer Tag. Während die Kinder noch schlafen, sind Mutter und Vater bereits wach. Nachdem alle aus dem Traumland in die Realität gefunden haben – nur der Oma wird es erlaubt, weiterzuschlafen – werden die Prozesse des Alltags in Gang gesetzt. Es werden Pläne geschmiedet, Aufgaben verteilt, nebenbei gefrühstückt. Fortan ist es ein stetiges Kommen und Gehen in der mittelgroßen Familienwohnung.

Vater, Mutter, große Tochter, kleine Tochter, Sohn, Hund, Katze sowie diverse Nebencharaktere aus der Nachbarschaft kommen zusammen und füllen das Apartment mit Leben. Während die Waschmaschine ihre Reparatur erfährt, werden die Kinder bespaßt, Einkäufe getätigt und Vorbereitungen für den Abend getroffen. So ziehen die Stunden ins Land, bis sich schließlich alle zum feierlichen Abendessen einfinden.

Nonchalant

Immer wieder gibt es diese Art Filme, die sich allein durch ihre narrative Struktur auszeichnen. Eigentlich passiert nicht viel und doch passiert so viel auf einer sehr ungezwungenen Ebene. Die Tier-Trilogie der Zürcher-Brüder ist dafür ein wunderbares Beispiel. Kaffee trinken, spielende Kinder, ein Glas, welches herunterfällt, Entitäten, die brummen (Wasch- und Kaffeemaschine und nicht zu vergessen die Katze) – es fällt schon schwer, etwas zu finden, was wirklich „bedeutsam“ ist. Und auch sonst wirkt hier einiges verkünstelt oder seltsam der Realität entrückt – an erster Stelle die Mono- oder Dialoge, die mal mehr, mal weniger poetisch ausfallen. Zwei Beispiele:

„Weinst du?“

„Ich schneide eine Zwiebel.“

„Gestern war ich mit Großmutter im Kino. Rechts von mir saß Großmutter und links ein fremder Mann. Nach einer Weile habe ich bemerkt, dass Großmutter eingeschlafen ist und begonnen hatte, tief zu atmen. Ich habe gehofft, dass ihr Atmen nicht in ein Schnarchen übergeht. Und plötzlich hat der Mann links neben mir seinen rechten Fuß auf meinen linken Fuß gestellt.“


Seltsam wirken diese Formulierungen und nicht selten kommt die Frage auf: Welcher Mensch spricht so?

Räumlichkeiten

Statt Kausalitäten offenzulegen – wenn eine Szene logischen Gesetzen folgend in eine andere übergeht – nähern sich die Zürchers dem Stoff mit einer explorative Weise. Ein tieferes Verständnis über einen Gegenstand zu erlangen, ist eine Lesung, die sich bei allen drei Filmen anbietet – in erster Linie über Räumlichkeiten oder das, was gemeinhin als „Zuhause“ bezeichnen werden kann. Der Habitus der menschlichen Wohnung wird zum immanenten Thema der Trilogie, wobei jeder einzelne Film einen anderen Zugang findet. Durch Ort- und Zeitlosigkeit ergänzen sie sich und beleuchten das menschliche Leben in aufgeladener Art und Weise.

Dass die Küche in vielen Kulturen den Ort von Sozialisierung abgibt, ist an den Zürchers nicht vorbeigegangen. Auch hier spielt sich das Geschehen die meiste Zeit in dieser Räumlichkeit, einem Ort der Bewegung, ab, die voller Leben steckt. Eine Tüte Altglas hier, eine Tasse Tee da sowie Essensreste auf dem Boden – es ist eine faszinierende Inszenierung, entgegen der stilistischen sauberen Darstellung in anderen Werken. Alles, inklusive Wäscheständer und Gelben Sack (gab es so etwas schon jemals in einem deutschen Film zu sehen?), befindet sich an Ort und Stelle, so auch der Schmutz, der als Indikator für das menschliche Leben angesehen wird.

Eine Geduldsprobe

Feinfühlig wird konstant die menschliche Toleranzschwelle abgetastet. Schreiende Kinder als auch ein Glas, welches kaputtgeht, sind indes nicht in der Lage, Negativität aufkommen zu lassen. Generell zeigen sich Ärgernis und seine Vorboten enorm selten, was jene Entkoppelung noch weiter bekräftigt. Sind wir hier in einem realistischen Abbild des Familienlebens oder doch mehr in einem künstlerischen Metier unterwegs? So oder so, die Narrative gleicht einer Geduldsprobe und fast durchgehend erhofft man sich, dass die Hutschnur bei irgendjemandem platzt und im Resultat irgendetwas passiert.

Zu jeder Zeit durchchoreographiert, entsagen sich die Zürchers jeglicher Improvisation – doch eben nur fast. Auch wenn viele Elemente, angefangen von der starren Bildkomposition, über die Raumaufteilung des Kammerspiels, bis hin zum menschlichen Verhalten, minutiös kalkuliert sind, gibt es eine Variable, die sich der Macht des Regisseurs entzieht. Die Katze gehorcht den Regeln des Films nicht, sie tut und macht, wonach es ihr beliebt. Eine merkwürdige Entität in der sonst durchkonzipierten Narrative – was der Titel schon erahnen lässt. Durchgehend beobachtet sie das Geschehen um sich herum und interessiert sich scheinbar nur für die wenigsten Dinge, so wie auch die Zürchers nur in den seltensten Situationen an Bedeutungszuschreibungen oder dem Prozess des Metaphorisierens interessiert sind. Sind es nicht gerade Tiere, die sonst immer mit allerlei Motiven im Film verbunden werden?

Von Drama keine Spur

Es gibt dabei genug Momente, um sich zu beschweren, wenn nicht über Schnittwunden, dann über die laute Tochter, das aufdringliche Heulen der Krankenwagensirene, das Haar im Glas Milch. Selbst der Hund beklagt sich, wenn er gerade mal keine Aufmerksamkeit bekommt oder sein Ball unter dem Tresen landet. Immer wieder scheint Potential für Ärgernis durch und doch scheint die Familie immun gegen Gefühlsexplosionen. Das merkwürdige Kätzchen schafft damit ein sehr gelungenes Vakuum, stets vor dem Punkt, an dem das Genre des Dramas beginnt.

Als ein Psychogramm menschlicher Beziehungen, familiären Zusammenlebens und des Biotops Wohnraum, ist Das merkwürdige Kätzchen eine Perle des deutschen Kinos. Entspannt und ungezwungen, schlichtweg nonchalant wird das Leben eingefangen und das fast ohne jegliche Musik und Euphemismen. Nahe am Leben und dennoch voller Magie, präsentiert sich das erste Kapitel der Tier-Trilogie als grandiosen Auftakt. Kann es noch besser gehen? Der Artikel zum zweiten Kapitel „Das Mädchen und die Spinne“ beleuchtet es ausgiebig.
 
 

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