Julie - eine Frau gibt nicht auf

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Forumseintrag zu „Julie - eine Frau gibt nicht auf“ von Filmgenuss

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Filmgenuss (04.07.2024 11:30) Bewertung
Die Gehetzte von Paris
An jedem Tag muss die Schlacht des Alltags geschlagen werden. Jeden Tag, ist es nicht das ewig herbeigesehnte Wochenende, reißen uns in aller Herrgotts Früh technische Gerätschaften wie auch immer aus dem Schlaf. Jeden Tag müssen wir gefallen, funktionieren, das Beste geben. Wo ist die Work-Life-Balance denn eigentlich hin? Sie wird zur netten Theorie, die man anstreben, aber nie umsetzen kann. Denn das Beste ist oft nicht gut genug. Und will man mal das Beste auch energisch durchsetzen, sind die, von denen man schließlich abhängig sein muss, am Besten nicht interessiert. Denn Julie, zweifache Mutter und geschieden, muss tagtäglich aus einem Vorort vor Paris in die Stadt pendeln, um ihrer Arbeit als Reinigungskraft in einem Nobelhotel nachgehen.

Blöd nur, dass die Gewerkschaften der Fahrbediensteten allesamt streiken und Julie ordentlich hudeln muss, um zeitgerecht ihre Arbeit zu beginnen. Wie immer im Leben kommt alles zusammen, was man gut und gerne übers Jahr verteilen könnte. Erschwerend zu diesem logistischen Engpass kommt die Chance auf einen Jobwechsel inklusive Bewerbungsgespräche, die kaum während der regulären Arbeitszeit unterzubringen sind. Als ob das nicht reichen würde, quält die Bank mit der Aufforderung, endlich die Raten fürs Haus zu bezahlen. Und überhaupt sieht sich die betagte Nachbarin nicht mehr imstande, die beiden Kinder zu betreuen. Eine andere oder ein anderer hätte angesichts dieser übermannenden Schwierigkeiten entweder längst resigniert oder wäre Amok gelaufen wie Michel Douglas in Falling Down. Julie, überzeugend dargeboten von Laure Calamy, mit all den Nuancen zwischen Ehrgeiz, Überlebenswillen und Erschöpfung, lässt diese schwierige Zeit aber nicht zu ihrem eigenen Waterloo werden. Sie geht Risiken ein, um all das gleichzeitig zu stemmen. Der sozialpolitische Hintergrund mit den urbanen Streiks und den bürgerkriegsähnlichen Unruhen in den Banlieues lässt Eric Gravels Film erscheinen wie ein semidokumentarisches Drama der Gebrüder Dardenne (Zwei Tage, eine Nacht mit Marion Cotillard), allerdings nur gelegentlich, denn so ausgesprochen kontrastreich und nüchtern wie deren Werke ist Julie – eine Frau gibt nicht auf (im Original schlicht und einfach A Plein temps – Vollzeit) nicht geworden. Hinter Calamys überaus charmanter und reizender Art, die Dinge zu meistern, scheint man fast eine französische Komödie zu vermuten, und die Tonalität ist weicher, geschmeidiger und auf weniger Reibung aus. Die Reibung entsteht aus den schwierigen Umständen, die sich immer höher auftürmen, bis gar nichts mehr geht. Ist Julie die Chronologie eines Burnouts? Wohl eher die rastlose, umtriebige und durchgetaktete Beobachtung des Alltags einer Durchschnittsbürgerin, die Hürden überwinden muss, welche tausendfach anderswo genauso existieren. Der Fokus aufs Individuum aber lässt dieses Bravourstück eines Spagats zwischen Ausbeutung, sozialer Ignoranz und doch auch aufkeimender Solidarität zwischen den Leidtragenden zu einem abenteuerlichen Thriller werden, der in einer Filmrealität spielt, die der Protagonistin nicht so kaltschnäuzig gegenübersteht wie in den Filmen der Dardennes. Das Schicksal fordert Julie zwar heraus, behält sie aber in seiner Gunst.

Dass Calamys Figur die Dinge wohl letztlich nicht doch hinbiegen wird, steht niemals wirklich zur Debatte. Und dennoch hetzt und hechelt man mit, wenn die Getriebene von Paris alles gleichzeitig und am besten gestern meistern muss. Dass manche Faktoren wohl im Vorfeld besser durchdacht hätten werden können, will man Julie am liebsten gar nicht nachsehen – doch selbst hätte man wohl auch das eine oder andere nicht beachtet und es sich schwieriger gestaltet als nötig.



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