Das Mädchen und die Spinne

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Forumseintrag zu „Das Mädchen und die Spinne“ von MichaelGasch

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MichaelGasch (10.08.2024 13:10) Bewertung
Über die eigenen vier Wände
Exklusiv für Uncut
2013 kam mit „Das merkwürdige Kätzchen“ der erste Teil einer programmatischen Trilogie heraus. Einige Filmfestivals, inklusive Berlinale, Cannes und die Viennale, waren sichtlich angetan, es folgten diverse Auszeichnungen. Die darauffolgenden Jahre wurde es ruhig um die Zürcher-Brüder, doch wie heißt es so schön: Gut Ding will Weile haben. Der zweite Teil mit dem Titel „Das Mädchen und die Spinne“ folgte 2021, wurde ebenso auf prestigeträchtigen Filmfestivals gezeigt und wurde mir einmal wie folgt ans Herz gelegt: „Das ist eine der besten Produktionen des neuen Jahrtausends“. Erneut werden das menschliche Zusammenleben und Räumlichkeiten, die den Begriff „Zuhause“ maßgeblich prägen, eingehend unter die Lupe genommen.

Darum geht’s: Lisa (Liliane Amuat) und Mara (Henriette Confurius) waren jahrelang unzertrennlich. In ihrer Wohngemeinschaft wohnten sie, feierten Partys, schlossen Freundschaften und erlebten eine Zeit, an die sie sich wohl noch lange erinnern werden. Als Lisa beschließt auszuziehen, geht eine Ära zu Ende. Beim bevorstehenden Umzug breiten sich paralysierende Gefühlswelten aus. Sind die Frauen bereit für diesen großen Schritt? Der letzte Tag vom Umzug entpuppt sich dabei als der Wichtigste. Was wird noch gesagt und was bleibt unausgesprochen? Und wohin wird das Leben die zwei Frauen fortan führen? Und was macht die Hausspinne an der Hauswand, deren Leben durch den Umzug nicht minder aufgewühlt wurde?

Vom Kätzchen zur Spinne

In medias res setzt die Narrative sein, es könnte sich glatt um den darauffolgenden Tag aus dem Vorgängerfilm handeln, nur ein Stockwerk höher. Der Auszug läuft in vollen Touren, oder doch nur in halbvollen? Immerhin sitzt die Ungewissheit, wie es die nächsten Tage und Wochen weitergeht, nun ganz deutlich im Nacken. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt, doch bevor dieser anbricht, müssen erst noch Risse gefüllt werden – mental wie auch in den Wohnwänden. Beobachtet wird dies im zweiten Teil der Trilogie indessen von einer Hausspinne, die sich in eine Raumecke verkriecht. Ihr Netz fiel wohl dem Umzug zum Opfer und auch sie befindet sich gerade in einem Zwischenzustand. Das alte Zuhause ist nicht mehr und das Neue noch nicht ganz da. Ein unwohles Gefühl für Tier und Mensch gleichermaßen, wenn nicht gar das Schlimmste bei einem Umzug.

Programmatisch erscheint wieder das Thema des Ein- und Ausgehens. Die Umzugshelfer kommen und gehen, so wie auch die neuen Freunde, Nachbarn oder Affären einen Besuch abstatten und auch wieder von Dannen ziehen werden – sobald die Zeit reif ist. Der Titelsong des Films, „Voyage, Voyage“ von Desireless entpuppt sich im Kontext des zirkulären Aufbruchs, Weiterkommens und Ankommens als perfekte musikalische Untermalung. Immer wieder ertönt diese Melodie als Klavierspiel und nicht selten stellt sich die Frage, ob es sich um diegetische oder extradiegetische Musik handelt. Dient sie nur als Leitthema des Films oder versteckt sich doch etwas psychologisiertes dahinter? Mit solchen kleinen Details arbeiten die Zürchers immer wieder und schaffen tiefergehende Ebenen, die zum Sinnieren einladen.

Räumlichkeiten (erneut)

Dass der Film mit einem Wohnungsplan beginnt, deutet unmittelbar auf den zweiten Zugang der Zürchers hin. Erneut geht es um das Leben in Wohnräumen, was nun in einer anderen Perspektive aufgegriffen wird. Isoliert vom Rest der Welt, trennt die Eingangstür das Private vom Öffentlichen. Die Metapher Inselparadies kommt auf. Es ist eine vielschichtige Lesart, die sich fortan ergibt: Unzählige Möglichkeiten bieten die eigenen vier Wände. Dafür sorgt nicht nur das menschliche Wesen, auch die Wohlfühl- und Selbstverwirklichungsindustrie sind hierbei nicht ganz unbeteiligt. Die Qual der Wahl meldet sich: Eine simple Einrichtung oder King-Size-Bed? Lieber ein kleiner Spiegel im Flur oder doch ein großer im Wohnzimmer? Was ist mit Haustieren – schließlich will man ja nicht als Spinnenfrau abgestempelt werden. Die große Frage dabei: Ab wann wird der Wohnraum ein Zuhause? Es ist eine hochkomplexe Frage, bei der die Zürchers sich nicht anmaßen, eine Antwort zu wissen.

Während im Kätzchen die Küche als Ort des Zusammenkommens examiniert wurde, verlagert sich nun der Fokus auf Flure, Wohn- und Schlafzimmer. Dass letzteres der Raum höchster Intimität ist, versteht sich von selbst. Die Wahrscheinlichkeit, dass innere Welten geöffnet werden, erscheint hier noch am wahrscheinlichsten. Fast schon poetisch wird festgehalten: Wohnraum ist nicht gleich Wohnraum, was sich auch an den Gesprächen ausmachen lässt. Selten wirken diese tiefergehend, obgleich es genug zu sagen gäbe. Alles steht und fällt also mit dem Öffnen von Türen – sowohl im psychischen Kontext als auch bei physischen Räumen. Kurz gesagt: Persona und Raum sind eng miteinander verwoben.

Drama

Während Das merkwürdige Kätzchen nicht genügend Kriterien aufwies, um als Drama bezeichnet werden zu können, zeigt sich die zweite Episode aus dem deutschen Leben sichtlich impulsiver. Lakonisch ist dabei die Ausgangslage, da zu keinem Zeitpunkt festgehalten wird, was in der Vergangenheit passiert ist und den Auszug auslöste. So oder so, es gibt genug Reibungen, die an die Oberfläche dringen. Beim Kätzchen gab es noch keine Gefühlsexplosionen, hier dafür umso mehr. Während Aggressionen bei Männern oftmals in physische Gewalt mündet, sieht es bei den zwei Frauen hingegen deutlich komplexer und subtiler aus. Mit der Macht der Worte entlädt sich weibliche Toxizität mal unterschwellig, mal derbe mitten ins Gesicht. Vereinzelte Momente, in denen sich die erste Träne bildet, erscheinen oftmals nur einen Wimpernschlag entfernt.

„Das Mädchen und die Spinne“ entpuppt sich damit als deutlich dramatischer, nicht nur wegen der individuellen Reibungen, sondern auch wegen der paralysierenden Atmosphäre, die konstant mitschwingt. Lobenswert ist, dass es keinen klassischen Schlagabtausch oder gar eine Schlammschlacht gibt, um das Drama am Laufen zu halten. „Das besondere Etwas“ schlummert nach „Das merkwürdige Kätzchen“ auch im zweiten Teil der Tier-Trilogie, erreicht durch die feinfühligen dramatischen als auch surrealistischen und tangierenden Tendenzen. Die Spinne gesellt sich somit zum Kätzchen hinzu – es ist eine weitere Perle über das Leben, welches in ein liebevolles filmisches Gewand gehüllt wurde. Komplettiert wird die Trilogie nun durch „Den Spatz im Kamin“.
 
 

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