Filmkritik zu Wild Diamond

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    Ausgeblähte Brüste im aufgeblähten Cannes-Kino

    Exklusiv für Uncut aus Cannes 2024
    Wir schreiben die 77. Ausgabe der Filmfestspiele in Cannes. Erneut kommt die Filmwelt zusammen und wie könnte es auch anders sein, ist auch dieses Jahr wieder das Coming-of-Age-Kino anwesend. Mit „Wild Diamond“ wird das Subgenre des Dramas eröffnet, welches in den letzten Jahren mit „Aftersun“ und „How to Have Sex“ grandiose Produktionen hervorgebracht hat. Alle Welt ist schon gespannt darauf, welcher Film 2024 das Erbe weiterführen wird.

    Darum geht es: Liane (Malou Khebizi) ist 19 Jahre alt und befindet sich an der Schwelle zum Erwachsensein. Wie sie ihr Ziel, Ruhm und Reichtum, erreicht, ist dabei zweitrangig. Die Qual der Wahl bestimmt dabei ihr Leben: Immer wieder springt sie zwischen Modelling, Tanzen und Influencing umher und versucht, ihren Platz in der Welt zu finden. Dass sie neben all dem immer noch auf ihre Schwester aufpassen muss und mit der Mutter immer wieder in Konfliktsituationen gerät, spielt ihr nicht in die Karten, sondern verschlimmert ihr Leben umso mehr. In einer Welt, die immer mehr von Instagram und Aufmerksamkeit als wichtigste Währung der Gegenwart bestimmt wird, bietet sich eines Tages ein Strohhalm, um mit der anstrengenden Vergangenheit abschließen zu können.

    Unzählige Filme gibt es mittlerweile, die sich mit den Problemen der Gegenwart beschäftigen und zeigen, dass es von Generation zu Generation immer schwerer wird, dem System aus Kapitalismus, Aufmerksamkeitswahn, Giften und Entmenschlichung zu entkommen. Mit eben jenen zentralen Aspekten der modernen Zeit versucht sich „Wild Diamond“ zu schmücken, ohne sich damit aber wirklich tiefgründig auseinanderzusetzen. Stattdessen bleibt es recht simpel: Die Frau hat es schwerer als der Mann und das ganze System ist sowieso gegen das Individuum. Nicht zu vergessen: Männer sind eh Schweine und/oder Idioten.

    Liane kann also nicht anders, als pragmatisch und egozentrisch zu sein. Wenn ein neues Kleid her muss, wird so lange geklaut, bis das Sparschwein voll ist. Jegliche Prinzipien werden über Bord geworfen, es ist eine Ellenbogengesellschaft par excellence. Immer wieder wird diese Simplizität fortan aufgebläht, was sich besonders an den Schlagworten bemerkbar macht. Beim Blick auf die Terminologie der „angeblich“ modernen Frau zeigt sich das am allerbesten. Angepasst an die Sprache der Zeit, wirft „Wild Diamond“ mit „Ladylike“, „Playing hard to get“, „Goddess“, „Girl warrior“, „It's my body“, „Princess“ und so weiter nur so um sich. Doch was versteckt sich hinter all dem?

    „Wild Diamond“ orientiert sich hierbei sichtlich an der jahrzehntelangen Unterdrückung der Frau, mit der nun Schluss sein soll. Das ist natürlich im Wesen erstmal nichts Verkehrtes, dennoch birgt es die Gefahr, in filmischer Belanglosigkeit zu enden. Nihilismus macht sich dabei breit, da nichts mehr wichtig und von Belang ist, womit auch direkt sämtliches Verhalten legitimiert wird: Klauen ist schon längst kein Problem mehr und auch mit dem Körper kann Frau ja tun, was sie will. Es ist eine generelle Auffälligkeit, dass dieses Argument nur bei negativen Entscheidungen angebracht wird und das Geschlecht in vielen Fällen wenig von Belang ist. Erneut halten Brustvergrößerungen und anderweitige Geißelungen am Körper in den Alltag Einzug, die Risiken scheinen nach „Wild Diamond“ in der Feminismusdebatte schon lange kein Thema mehr zu sein. Der kritische Blick auf die Aufmerksamkeitsindustrie hält entsprechend nur für kurze Zeit, vielmehr bestimmt ein Mangel an ambivalenter Auseinandersetzung das Geschehen. „Wild Diamond“ kann sich letztlich nicht entscheiden, was wichtiger ist: Die Anzahl der Follower oder doch eher die paar Hate-Kommentare; die Möglichkeiten, die Instagram bietet oder all die Schattenseiten, mit denen der Körper und Geist zu kämpfen hat.

    Nicht nur medial, sondern auch darüber hinaus hat der Körper in „Wild Diamond“ alle Hände voll zu tun, um in dieser Welt zurechtzukommen, womit sich das Drama zumindest einige Pluspunkte verdient. Ein Porträt über ein Anti-Leben macht sich breit: Zu der körperlichen Geißelung kommt ungesunde Ernährung hinzu, abgerundet vom Tabakkonsum und weiteren Möglichkeiten, die die Welt zu bieten hat. Dadurch, dass die Fassade aus künstlicher Schönheit noch intakt ist, bleibt ein Appell aus. Letztlich wird alles gut, da Schönheit Schönheit ist, ganz egal ob echt oder fake. Das Problem bei all dem ist, dass einige Filme vor „Wild Diamond“ das Ganze wesentlich fokussierter und radikaler betrachtet haben und dadurch auch viel präsenter im Kopf bleiben (das beste Beispiel ist wohl „The Neon Demon“).

    Auch wenn „Wild Diamond“ den Puls der Zeit trifft, reicht es nie ganz aus, um etwas Handfestes mitzunehmen. Wenig Sympathie für die Protagonistin sowie eine leichte Überlänge von 15 Minuten schlagen als Gegenpole in der Gesamtheit dann doch zu sehr ins Gewicht. Eine Einreihung in dieselbe Kategorie der Filmfestival-Perlen aus den Vorjahren ist daher alles andere als angebracht.
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    (Michael Gasch)
    15.05.2024
    22:33 Uhr